Mara Santidrián Korff

28 April 2022

Overconfidence in der Personalauswahl – die Gefahr von unstrukturierten Interviews

Wären die Teamleader beim Anstieg des Mount Everest 1996 nicht so stark von ihren Fähigkeiten und dem Glauben, dass alles gut verlaufen würde, überzeugt gewesen, dann hätte sich der dramatische Tod von fünf Bergsteigern vermeiden lassen. Diese schlimme Katastrophe hat für viel mediale Aufmerksamkeit gesorgt. Auf der Suche nach Ursachen, wie es zu dem tödlichen Unfall gekommen ist, fällt immer wieder der Begriff Selbstüberschätzung (im Englischen Original auch: “Overconfidence”). 

Aber nicht nur in derartigen Extremfällen kann die Selbstüberschätzung zu großem Schaden führen: auch in der Personalauswahl spielt sie eine – zwar weniger lebensbedrohliche – aber dennoch entscheidende Rolle.

Was ist Selbstüberschätzung und wie wurde sie untersucht?

Selbstüberschätzung beschreibt das ungerechtfertigte Vertrauen in das eigene Urteil und die mangelnde Fähigkeit die Grenzen seines Wissens anzuerkennen. 

Dazu haben Kausel, Culbertson und Madrid im Jahr 2016 Studien mit Personalverantwortlichen durchgeführt. Sie untersuchten, welche Rolle die Selbstüberschätzung von HRler*innen in Einstellungsentscheidungen spielt. 

In den Studien wurden Führungskräften und HR-Manager*innen verschiedene Informationen präsentiert, anhand derer sie aus zwei Kandidat*innen, den*diejenige auswählen sollten, der*die ihrer Meinung nach eine bessere berufliche Leistung erbringen würde. Es wurden verschiedene Personalauswahlmethoden untersucht, die in der Praxis häufig verwendet werden: 

  • Standardisierte Tests zur “generellen mentalen Fähigkeit” (GMA; Tests zur verbalen, numerischen und logischen Denkfähigkeit von Kandidat*innen), 
  • Standardisierte Tests zu dem Persönlichkeitsmerkmal Gewissenhaftigkeit und
  • Unstrukturierte face-to-face Interviews.

Die Ergebnisse der jeweiligen Methoden wurden zwei Gruppen präsentiert, die die Einstellungsentscheidungen treffen sollten.

Besonders strukturierte Interviews erfreuen sich als Personalauswahlmethode großer Beliebtheit, da sie zuverlässige Vorhersagen über den späteren Berufserfolg der Kandidat*innen erlauben. Unstrukturierte Interviews hingegen stehen in der Kritik, weil die Gültigkeit (Validität) dieser Methode gering ist. Der Strukturierungsgrad von Einstellungsinterviews ist für die Qualität der Personalentscheidungen zentral.

Aber welche Rolle spielen die Informationen aus unstrukturierten Interviews, wenn gleichzeitig gültige Informationen (z.B. die Ergebnisse standardisierter Tests) vorhanden sind? Auf welchen Informationen basieren dann die Entscheidungen? Und welchen Einfluss hätte die Gewichtung der falschen Information?

Wie war die Vorgehensweise?

Um diese Fragestellungen zu untersuchen, wurden die Teilnehmer*innen in zwei Gruppen aufgeteilt. Dabei wurden einer Gruppe (Test-Bedingung) Informationen der standardisierten Tests zu GMA und Gewissenhaftigkeit präsentiert und einer anderen Gruppe (Interview-Bedingung) die Ergebnisse der standardisierten Tests und zusätzlich die des unstrukturierten Interviews.

Gruppe 1 (Test-Bedingung)Gruppe 2 (Interview-Bedingung)
GMA Testergebnisse
Ergebnisse zur Gewissenhaftigkeit
Bewertungen aus dem unstrukturierten Interview
Tabelle 1: Vorliegende Informationen der beiden untersuchten Gruppen

In einer weiteren Studie haben Kausel et al. die Kandidat*innenauswahl von Student*innen durchführen lassen, die zudem einen gewissen Geldbetrag auf den*die Kandidat*in setzen sollten, der*die ihrer Meinung nach die bessere berufliche Leistung erbringen würde. Dabei haben sie das Geld gewonnen, wenn sie richtig lagen und verloren, wenn sie sich falsch entschieden haben. 

Welche Erkenntnisse konnten gesammelt werden?

Über die Studien hinweg haben sich konsistente Befunde gezeigt, aus denen sich folgende Konsequenzen ableiten lassen: 

Standardisierte Tests haben eine höhere Vorhersagekraft als unstrukturierte Interviews

  1. Die Test-Bedingung (Gruppe mit standardisierten Tests zu Gewissenhaftigkeit und GMA-Ergebnissen) konnte die spätere Jobperformance der Kandidat*innen besser voraussagen. Das zeigt, dass mithilfe von guten Methoden auch gute Vorhersagen getroffen werden können. 

In der Interview-Bedingung (Gruppe mit Ergebnissen der standardisierten Tests plus die des unstrukturierten Interviews) wurden weniger genaue Vorhersagen über den Berufserfolg getroffen. Die unstrukturierten Interviews wurden trotz geringerer Vorhersagekraft (fälschlicherweise) stärker für das Urteil gewichtet. 

Unstrukturierte Interviews führen zu Selbstüberschätzung

  1. Trotz schlechteren Vorhersagen waren die Teilnehmer*innen in der Interview-Bedingung überzeugter von ihrer Entscheidung für eine*n der Kandidat*innen. Durch die starke Gewichtung der unstrukturierten Interviews für das Urteil entsteht eine Illusion des Wissens. Die Informationen aus unstrukturierten Interviews steigern somit die Selbstüberschätzung.

Selbstüberschätzung führt zu höheren Verlusten

  1. Das größere Vertrauen in das eigene Urteil in der Interview-Bedingung führte zu höheren Wetteinsätzen bei Student*innen und somit auch zu höheren Verlusten, weil häufiger falsche Entscheidungen getroffen wurden.

Unstrukturierte Interviews werden für die Urteilsbildung übergewichtet

  1. Betrachtet man die Gewichtung, die die Teilnehmer*innen in der Studie den einzelnen Personalauswahlmethoden zugeordnet haben, so ist ein deutlicher Trend erkennbar: Die unstrukturierten Interview-Ratings werden stark übergewichtet, obwohl durch sie keine gültigen Vorhersagen des Berufserfolgs getroffen werden können. 

Von der Theorie in die Praxis – Welche Learnings kann man daraus ziehen?

Aus den Studien lassen sich folgende zentrale Schlussfolgerungen ableiten: 

Unstrukturierte Interviews können die Personalauswahl verschlechtern

  1. Die Hinzunahme unstrukturierter Interview-Informationen führt beim Vorhandensein besserer Informationen (wie z.B. standardisierte Testergebnisse) zu einer schlechteren Personalauswahl im Sinne geringerer Genauigkeit und fehlerhafter Selbstüberschätzung. Unstrukturierte Interview-Ergebnisse besitzen eine geringe Vorhersagekraft für die Jobperformance.

Selbstüberschätzung führt zu häufigen Fehlentscheidungen in der Personalauswahl

  1. Die Selbstüberschätzung (Overconfidence) hat wichtige Auswirkungen auf die Personalauswahlprozesse, da übermäßig selbstsichere HRler*innen eher die Kandidat*innen-Suche frühzeitig abbrechen, da sie schneller glauben, bereits die*den ideale*n Kandidat*in gefunden zu haben – häufig ein Trugschluss!

Für gute Personalauswahl gilt: weniger ist mehr!

  1. Weniger – aber dafür gute Methoden – schaffen einen größeren Mehrwert, um Overconfidence in der Personalauswahl zu vermeiden. Dabei ist die Qualität der herangezogenen Methoden für eine gute Personalauswahl ausschlaggebend und nicht die Menge der vorliegenden Informationen über die Kandidat*innen. Datenbasierte und standardisierte sowie strukturierte Ergebnisse (z.B. kognitive Leistungstests, strukturierte Interviews, etc.) bieten einen erwiesenermaßen größeren Mehrwert für die Personalauswahl als unstrukturierte und subjektiv beeinflussbare Ergebnisse. 

Digitale Tools wie Applysia können dabei helfen valide, effiziente und simple Personalauswahl in die Arbeitsprozesse zu integrieren, sodass die idealen Kandidat*innen ausgewählt und geeignete Methoden angewendet werden. Applysia könnte somit dazu beitragen das Problem der Selbstüberschätzung in Einstellungsprozessen zu verbessern. 

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